Paula ist 93 Jahre alt. Jahrzehntelang hat sie nicht darüber gesprochen, was ihr als Mädchen widerfahren ist. Nun sitzt sie mit drei anderen Frauen ihres Alters vor unserer Gruppe und soll davon berichten, wie sie als Jüdin den Holocaust überlebt hat. Ihre Stimme ist fest, trotzdem merkt man, wie schwer es ihr fällt, in die Geschichte zurückzugehen und sich daran zu erinnern, wie sie bei der Ankunft in Auschwitz von ihrer Familie getrennt wurde und später in Bergen-Belsen versuchte, ihrer Ermordung zu entgehen. Es sind diese Momente der Erzählungen, die das Wissen um die schrecklichen Ereignisse von damals authentisch machen. Aber trotz all des unfassbaren Leids, das Nazideutschland über ihre Familien gebracht hat, das Deutschland von heute sehen die vier Frauen mit Vergebung. Ihre eindringliche Bitte an alle nachfolgenden Generationen: Die Dinge sind passiert, wir können sie nicht ungeschehen machen – aber tun Sie alles dafür, dass dies nie wieder geschieht!
Diese Begegnung mit Überlebenden des Holocaust war einer der emotionalen Höhepunkte des diesjährigen USA-Austauschprogramms, organisiert vom American Jewish Commitee (AJC) und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vom 10. bis 17. Juli besuchten 15 deutsche Führungskräfte Washington, New York und Dallas. Ein volles Programm mit berührenden Gesprächen, engagierten Diskussionsrunden, spannenden Museumsbesuchen und vielem mehr. Ziele des seit 36 Jahren stattfindenden Programms sind, das Leben der jüdischen Gemeinschaft in den USA in ihrer Vielfalt kennen zulernen, den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern und das Interesse an den transatlantischen Beziehungen zu fördern. All dies ist dem Programm – dank der hervorragenden Organisation – auch diesmal wieder sehr gut gelungen.
In Washington besuchte die Gruppe das Holocaust-Museum. Geführt von einem jungen Deutschen und einem Österreicher, die beide ein Soziales Jahr im Museum leisten, wurde uns einmal mehr das Grauen der systematischen Vernichtung der Juden Europas vor Augen geführt. Wie dies noch heute aufgearbeitet wird und welche Rolle leider nach wie vor antisemitische Strömungen in den USA und anderen Ländern spielen, erfuhren wir im Gespräch mit verschiedenen Jüdischen Organisationen im AJC-Büro. Selbstverständlich nahm auch der bevorstehende Präsidentschaftswahlkampf in den Begegnungen einen besonderen Stellenwert ein. Sowohl beim Besuch im Außenministerium, beim Empfang des KAS-Büroleiters in der US-Hauptstadt, Dr. Lars Hänsel, wie auch bei der sehr erhellenden Diskussion mit vier ehemaligen Kongress-Abgeordneten (je zwei Demokraten und Republikaner) kam das Thema zur Sprache. Auch bei den nun schon traditionellen privaten Abendessen bei AJC-Mitgliedern zu Hause wurden die Eigenheiten und Unterschiede der beiden Kandidaten Hillary Clinton und vor allem Donald Trump im kleinen Kreis besprochen.
In New York erfuhr die Gruppe in der Sutton Place Synagoge zahlreiche Details über das gegenwärtige jüdische Leben in den USA. Rund 6,8 Millionen Juden unterschiedlicher Richtungen leben heute in den Vereinigten Staaten. Allein in New York sind es mehr als zwei Millionen – damit hat die Stadt die weltweit größte jüdische Bevölkerung außerhalb Israels. Im Tenement Museum erlebte die Gruppe am Beispiel deutscher Einwanderer und mit einem beeindruckenden modernen Museumskonzept, wie sich die Gesellschaft im 19. Jahrhundert durch die vielfältigen kulturellen Einflüsse der Emigranten veränderte. Um die geschichtlichen Grundlagen und Kultur des Judentums ging es dann beim Besuch des Jüdischen Museums und speziell im renommierten Leo Baeck Institut um die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der deutschsprachigen Juden. Nicht zu vergessen: Der liebenswürdige Empfang in der Privatwohnung von Anthony Meyer, Co-Vorsitzender des AJC Berlin, und der stimmungsvolle Tagesabschluss im Blue Note Jazz Club.
Ein Kontrastprogramm zum etablierten Washington und New York erlebten wir im fast 40 Grad heißen Dallas. Ob BBQ mit gegrillten Fleischbergen und leckeren Zwiebelringen oder Stockyards Rodeo vor eindrucksvoller Kulisse – das sehr engagierte AJC-Büro Dallas hatte die Besonderheiten von Texas geschickt im Programm integriert. Neben dem Besuch des George W. Bush Präsidenten-Museums und des Sixth Floor Museums, in dem die Historie des tödlichen Attentats auf Präsident John F. Kennedy aufbereitet ist, bot Dallas auch den zweiten emotionalen Höhepunkt der Reise. Der Sabbat-Gottesdienst in der größten Synagoge der Südstaaten am Freitagabend war für viele eine spirituelle Erfahrung. Die Mischung aus Gesang, Gebeten und einer außergewöhnlich liberalen Predigt zeigte auf wunderbare Art den Zusammenhalt und den Gemeinschaftssinn der jüdischen Gemeinde.
Sieben vollgepackte Tage in den USA liegen nun hinter uns – mit Erlebnissen und Erkenntnissen, die für immer im Gedächtnis bleiben. Kurz gesagt: Es war klasse! Herzlichen Dank dafür an das ACJ und die Konrad-Adenauer-Stiftung. Wenn es dieses wunderbare Programm noch nicht gäbe, es müsste dringend erfunden werden. Auch angesichts zunehmender antisemitischer Ereignisse und Äußerungen in Deutschland ist es überaus wichtig, sich immer wieder sowohl mit der Kultur und Geschichte des Judentums wie auch vor allem mit dem Holocaust zu beschäftigen – damit so etwas nie wieder geschehen kann.
Hendrik Sittig
Referent Programmdirektion Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) und ehem. Mitarbeiter im KAS-Büro Moskau