Bericht des Jahrgangs 2018
Unser Flugzeug war kaum in Washington gelandet, da twitterte der amerikanische Präsident Donald Trump, er werde einen neuen Verfassungsrichter ernennen und gegen Europa wegen seines Handelsdefizits und der geringen Beiträge zur Nato vorgehen. Der Kalender zeigte den 8. Juli 2018. Und so kamen wir in eine Stadt, die in einer Weise zerrissen war, wie vielleicht noch nie in der Geschichte des Austauschprogramms der Konrad-Adenauer-Stiftung und des American Jewish Committee. Eine Stadt, in der sich viele Amerikaner für ihren Präsidenten bei uns entschuldigen wollten, oder – ganz innenpolitisch – selbst in der Sorge lebten, was eine Neuordnung des Verfassungsgerichts und alle anderen politischen Umstürze für ihr Leben bedeuten könnten. Ein Land auch, in dem der jüdische Austausch nicht mehr nur unter dem Eindruck der Vergangenheit steht, sondern auch unter dem Einfluss einer hitzigen Migrationsdebatte auf beiden Seiten des Atlantiks. Willkommen im Trumpschen Zeitalter.
Das Flugzeug verließen wir in einem gewissen Rauschzustand aus leichter Übermüdung, Euphorie und Tatendrang, ein Zustand, der eine Woche anhalten sollte. Der erste Tag in Washington, ein Montag, galt der Hauptstadtpolitik. Im Senate Foreign Relations Committee und der Bipartisan Task Force for Combating Antisemitism diskutierten wir über die gegenwärtige Schwäche des amerikanischen Kongresses, über Perspektiven nach den anstehenden Halbzeitwahlen, über Antisemitismus in Amerika und Europa – und über den Zwiespalt, den die Trump-Regierung für amerikanische Juden bedeutet: Einerseits Israel-freundlich, andererseits ambivalent gegenüber heimischen Rechtsextremen, zu denen auch Antisemiten zählen. Zwei Refrains prägten sich uns schon am ersten Tag ein wie Ohrwürmer. Der eine, eher komisch: Die notwendigen, aber immer wiederkehrenden Vorstellungsrunden bei allen Treffen, bei denen wir Teilnehmer Dutzende Male unseren Lebenslauf referierten, so oft, dass unsere Ko-Teilnehmer diesen schon mitsprechen konnten. Der andere, ganz ernst: Die Botschaft der amerikanischen Gesprächspartner, dass Trump nicht für das amerikanische Volk stehe. Dass die Vertreter vieler amerikanischer Institutionen weiter fest verankert seien im Parlamentarismus, der Demokratie und dem transatlantischen Verhältnis. Dass, wenn die Dinge hart auf hart kämen, auch ein Nato-Bündnisfall nach Artikel 5 in den baltischen Staaten von Republikanern und Demokraten im Kongress durchgesetzt würde, ganz gleich, wer im Weißen Haus sitze. Es waren Worte, die mit großem Ernst und Eindringlichkeit gesprochen wurden. Am Nachmittag folgte eine Podiumsdiskussion mit jüdischen Interessensvertretern von der American Jewish Committee, dem American Israel Public Affairs Committee und der Anti Defamation League. Die drei Organisationen schienen die ganze Bandbreite abzubilden, von der oft kulturellen Arbeit des AJC, über die oft empirische Aufklärungsarbeit der ADL bis hin zum stärker politischen Profil von AIPAC. Der Bekanntheit seiner Organisation wegen wurde besonders der AIPAC-Vertreter Stephen Schneider mit Fragen gelöchert, und seine Mischung aus Direktheit und Freundlichkeit blieb in Erinnerung. Am Abend folgte ein Empfang der Konrad-Adenauer-Stiftung, bei der der Europapolitiker Elmar Brok als Gastredner sprach, von dem ohnehin gesagt wird, er sei stets überall. Brok war auch hier. Und erklärte in seiner Rede, wie eine Entgegnung Europas auf die Forderungen Trumps nach einer Erhöhung der Wehretats aussehen könnte. Ein Argument: Der Beitrag Europas zum Bündnis durch die Flüchtlingsaufnahme, durch die Entwicklungshilfe in Afrika und dem arabischen Raum und durch die Beteiligung an Nato-Operationen müsse berücksichtigt werden.
Dienstag. Während der Montag ganz im Zeichen aktueller Politik stand, sollte es nun um die Geschichte gehen, das also, was den Austausch so wertvoll macht: die Freundschaft vor dem Hintergrund der Schoa. Am Dienstag besuchten wir das Holocaust-Museum. Es war ergreifend, in einem der Güterwaggons zu stehen, die nach Auschwitz fuhren, oder im fernen Washington auf einer Landkarte das Nazilager im eigenen Heimatstadtteil in Frankfurt-Rödelheim zu sehen. Jeder hatte seinen eigenen Ort im Museum, der ihm naheging. Und obwohl den Deutschen die Orte der Verbrechen viel näher sein könnten, zum Beispiel weil sie diese selbst schon besucht haben, gelingt es dem Holocaust-Museum in Washington, diese Distanz zu überbrücken, sodass man im Nachhinein fast das Gefühl haben konnte, man habe gerade eine Gedenkstätte wie Buchenwald besucht. Einhelliges Lob für die Museumspädagogik war von den Teilnehmern zu hören. Und natürlich das immer wiederkehrende Lob für die phantastische Organisation der ganzen Reise durch Alyssa Lynn vom American Jewish Committee. Am Nachmittag erlebten wir eine Podiumsdiskussion mit drei klugen politischen Köpfen: Jonathan Katz vom German Marshall Fund, Jeff Gedmin von der Future Europe Initiative und Mike Abramowitz von Freedom House. Die Debatte über das transatlantische Verhältnis unter Trump war lang und engagiert, gegen Ende fiel ein Satz, der in Erinnerung bleibt: Europa kann nichts tun, um einen innenpolitisch motivierten Präsidenten einzuhegen. Weder die kumpelhafte Art des französischen Präsidenten Emmanuel Macron noch die rationale Sachlichkeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel haben Wirkung gezeigt. Europa kann nur versuchen, die destruktiven Entwicklungen zu verzögern, in der Hoffnung, dass eines Tages wieder sorgfältig abwägende Außenpolitiker an der Macht sind. Eines Tages. Am Abend folgten Einladungen bei jüdischen Familien in Washington, aufgeteilt auf vier Wohnzimmer. Während bei den einen über Skiurlaube und Geschäftsmodelle amerikanischer Radiologen gesprochen wurde, entspann sich bei anderen eine Kontroverse über die deutsche Flüchtlingspolitik. Warum sollte ausgerechnet Deutschland, mit der Geschichte des Holocausts, nun hunderttausend Flüchtlinge aus Ländern aufnehmen, in denen Antisemitismus weit verbreitet ist?, lautete sinngemäß eine der Fragen. Es ging heiß her. Was sollte ein Land, das aus der Geschichte gelernt haben will, denn sonst tun?, lautete sinngemäß eine der Gegenfragen. Erkenntnis: Je weiter der Holocaust sich zeitlich entfernt, umso mehr treten aktuelle Fragen in den Mittelpunkt des Austauschs. Aber die Geschichte wirkt in allem nach.
Mittwoch, Abreise nach New York. Die Tage flogen an uns vorbei. Koffer ins Hotel, Kleidung wechseln, im Fahrstuhl hoch, im Fahrstuhl runter, in den Bus zum Hauptquartier des AJC, zur nächsten Gesprächsrunde. Überhaupt: Immer schnell zum nächsten Ort. Und das alles in einem Jetlag-Taumel. Auch das gehört zum Eindruck der Woche, die wie im Fenster eines fahrenden Zuges vorbeizog. So verwundert es auch nicht, dass die eine Veranstaltung am Nachmittag des Mittwochs zum Thema jüdischer Identität nur in verschwommener Erinnerung geblieben ist. Vielleicht auch deshalb, weil genau das Gehirnareal am Abend von etwas Eindringlicherem überschrieben wurde: der Broadway-Show „The Band’s Visit“, ein Musical über Vorurteile zwischen Israelis und Ägyptern – eine große Parabel auf die Versöhnung zwischen Völkern. Sehr passend also.
Donnerstag. Der wahrscheinlich emotionalste Tag der Reise. Und der unvergesslichste. Er begann ganz informativ, mit Vorträgen zum Antisemitismus an amerikanischen Universitäten, wo nicht aus der in rechten, sondern in linken Kreisen verbreiteten Israel-Kritik ein gehässiger Antisemitismus entsteht, unter dem jüdische Studenten zu leiden haben. Ein ganz amerikanisches Thema, ganz im Gegensatz zu dem, was folgte. Elf Uhr: Treffen mit Holocaust-Überlebenden Ester Gever, Paula Weissman und Leon Levy. Für den deutschen Durchschnittsakademiker ist eine Beschäftigung mit dem Dritten Reich eigentlich keine Seltenheit: Besuche in Konzentrationslagern, Lektüre der Tagebücher von Opfern, Bücher über Hitler, Fernsehdokumentationen, Spielfilme, Magazingeschichten, Gespräche mit den Großeltern, auch mit Überlebenden in Deutschland, gehören dazu. Und so weiter, und so fort. Aber das Treffen mit Holocaust-Überlebenden in New York war etwas ganz Besonderes. Vielleicht deshalb, weil die Erzählungen so persönlich waren und so schwer. Leon Levy und Ester Gever hatten erst wenige Monaten zuvor den Entschluss gefasst, über ihre Jugend im Zeitalter des Holocausts zu sprechen. Davor hatten Sie über viele Jahrzehnte geschwiegen, nicht gegenüber Bekannten, aber gegenüber der Öffentlichkeit. Als sich diese ominöse Gruppe aus Deutschland ankündigte, gemeint sind wir, war das eine besondere Belastung. Leon Levy schlief mehrere Nächte nicht gut vor unserem Treffen. Und als er uns sah, und das erste Mal seit langer Zeit wieder Deutsch sprach, brach er sofort in Tränen aus. In den Erzählungen merkte man nichts von den siebzig Jahren, die vergangen waren. Alles war unmittelbar, wie eben erlebt. Man könnte nun von all den Entwürdigungen berichten, die unsere Gastgeber zu erleiden hatten, stattdessen soll lieber an zwei der emotionalsten Sätze erinnert werden, die eigentlich positiv waren, und trotzdem fast zu Tränen rührten: Ester Gever, die nach der ganzen Tortur, nach der Ermordung ihrer gesamten Familie, sagte, wie viel ihr heute ihre Urenkel bedeuteten: Die Tatsache, dass jemand überlebt hatte. Dass die Nazis nicht geschafft haben, was sie schaffen wollten. Und Leon Levy, der sagte, wie dankbar er der jungen Bundesrepublik war, dass er dort nach dem Krieg eine Uhrmacherlehre machen durfte. Dankbar – ausgerechnet Deutschland, und noch dazu für etwas Selbstverständliches. Das war ein emotionaler Moment. Weiter ging es zum AJC und dessen Geschäftsführer David Harris. Er sagte, was er später auch in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: Dass Deutschland standhaft sein müsse, von Einwanderern die Einhaltung seiner Werte einzufordern – womit auch ein Bekenntnis gegen Antisemitismus gemeint sei. Es war ein Bekenntnis zu einem Leitkultur-Begriff, der von manchen in Deutschland gerade wegen der deutschen Geschichte abgelehnt wird. Harris begründete ihn aber gerade mit der deutschen Geschichte und als Sohn von Holocaust-Überlebenden. Er begründete ihn auch mit den Erfahrungen Amerikas als Einwanderungsland. Am Abend folgte ein Empfang von Alumni des Austauschprogramms in der noblen Upper West Side.
Freitag, Frühstück mit Norbert Lammert, ein kurzer Erfahrungsaustausch unter deutschen Amerika-Reisenden: Lammert, ganz unverändert seit seiner Zeit als Bundestagspräsident, berichtete kurzweilig von Gesprächen mit amerikanischen Politikern. Wir berichten von unseren Eindrücken. Sie glichen sich: Trump als Gefahr für die transatlantische Partnerschaft. Die immer dringlicher werdende Notwendigkeit, Europas Sicherheit selbst zu organisieren. Und: Die generelle Unmöglichkeit mit einem an innenpolitischen Effekten interessierten Präsidenten zu verhandeln. Mit diesen Erkenntnissen fuhren wir im Zug nach Boston. Dort: ein Vortrag über jüdisches Leben in Amerika, Besuch einer Synagoge, das erste Mal Kippa tragen. Der Rabbiner sagte zu uns: Deutschland sei wegen seiner Rolle in der Flüchtlingskrise die moralische Führungsnation der Welt. Und: „Ich schaue auf zu Euch.“ Ein ganz unerwarteter Satz auf einer Reise eines Austauschprogramms, dessen Bezüge in der historischen Schuld von Deutschen begründet sind. Am nächsten Tag steigen wir in das Flugzeug zurück nach Deutschland. Es ist der 14. Juli 2018. Trump twittert, er werde morgen Wladimir Putin in Helsinki treffen. Und irgendetwas über Deutschlands Wehretat und das Zweiprozentziel der Nato.
Was bleibt? Das größte Kompliment für das Austauschprogramm der Adenauer-Stiftung passt wahrscheinlich in einen Satz: Dass es in nur einer Woche bleibende Erinnerungen schafft, die aus dem Trott der wabernden Nachrichtenströme und Alltagserfahrungen für immer herausstechen. Amerika ist nicht Trump, und jüdisches Leben dort ist so vielfältig wie das ganze Land.
Justus Bender